
Es ist der 18. Januar 1916. Emilie hat von ihrer Tante Karoline ein Poesiealbum zu Weihnachten geschenkt bekommen. Ihr Lehrer hält es in den Händen, er schreibt ihr ein Gedicht hinein und sucht eine hübsche Oblate mit einem Engel für sie aus.
Es ist der 18. Januar 2016. Ich habe von meinem Opa Willi vor zwei Jahren Emilies Poesiealbum zu Weihnachten geschenkt bekommen. Ich halte es in den Händen, lese das Gedicht, dass ihr Lehrer vor genau 100 Jahren hineingeschrieben hat und bin verwundert, weil die Oblate immer noch so wunderschön ist, obwohl der Klebstoff schon lange nicht mehr hält und ein Fuß abgerissen (aber im Buch aufbewahrt worden!) ist.

Ich bin eine leidenschaftliche Schatzsucherin und mir außerdem sehr sicher, dass ich das von meinem Opa Willi habe. Das Poesiealbum von Emilie hat er nämlich zusammen mit zwei anderen Poesiealben auf einem Flohmarkt oder in einer Schublade auf dem Sperrmüll gefunden.
Die Einträge sind zum Großteil in Sütterlin geschrieben – das ist die alte deutsche Schrift, die 1911 entwickelt und ab 1920 die bis dahin verwendete deutsche Kurrentschrift abgelöst hat.
Ich finde, die Schrift ist schwer zu lesen, aber mit einem Alphabet vor sich, geht es nach einiger Zeit ganz gut. Also habe ich das Gedicht von Emilies Lehrer für euch „übesetzt“.
Das einzige, was ich nicht sicher entziffern kann, ist sein Nachname; ich denke aber, der Herr Lehrer heißt G. Lautermann.

Bleibe stets ein gutes Kind,
Deiner Eltern Lust und Wonne,
Fromm, wie es die Englein sind!
So lacht dir des Himmels Sonne,
So lacht dir die selge Ruh
Von den Engeln droben zu.
Ingelfingen, den 18. Januar 1916
Zur Erinnerung an deinen Lehrer G. Lautermann
Diese Dinge – materiell wie Emilies Album, oder immateriell wie die Sütterlinschrift – faszinieren mich. Ich stelle mir vor wie meine Urgroßeltern gelebt haben und fühle mich ganz klein, weil ich nur so kurz hier bin, aber auch so groß, weil all das Vergangene ein Teil von uns ist.
Lass‘ dich kurz zurückfallen in das Jahr 1916, mach dein Grammophon an und klick‘ dich durch.