Warte mal

Manche Dinge verlernt man nicht einfach so. Fahrrad fahren zum Beispiel. Oder Schwimmen. Das sagen zumindest immer alle. Ich gehe manchmal durch die Stadt und denke: eigentlich voll gut, dass ich weiß, wie man läuft. Das kann ich. Kleine Ziele muss man sich setzten. Sagen auch immer alle.

Manche Dinge verlernt man aber ganz problemlos. Zum Beispiel sich neue Telefonnummern zu merken, französische Vokabeln, Kartoffeln anzubauen, ein Faxgerät zu bedienen oder zu warten. Warten klingt schon schlimm. Warten ist das Schlimmste, was uns in unserem Alltag passieren kann. Beim Arzt im Wartezimmer zu sitzen ist in etwa so schön wie 127 Stunden mit der Hand in einer Felsspalte festzustecken und sich dann selbst den Arm zu amputieren. Nur weniger lustig. Niemand wartet besonders gerne auf etwas oder jemanden. Aber gerade die Minuten, die wir irgendwo wartend verbringen, kommen uns absolut schrecklich vor. Zum Glück ist das fast nie der Fall, denn wenn wir mal warten müssen, ist sofort das Smartphone in der Hand und wir können in der Zeit ein paar Nachrichten verschicken, das Wetter morgen checken, Musik hören oder irgendetwas liken. Irgendwas kann man immer liken.

Wie weh warten tut, merkst du oft erst, wenn du mal dein Smartphone vergisst und völlig verzweifelt an der Haltestelle stehst: ‚Was?! Die nächste Bahn kommt erst in ZWEI Minuten?‘ Was macht man da? Man guckt halt rum. Man wartet. Warten tut weh, ist zumindest unangenehm, aber das ist gut. Denn wenn etwas ungemütlich ist, passiert was. Dein Gehirn bekommt nämlich genau dann die Chance, mal was zu tun, ohne ständig mit sekundären Reizen aus dem Netz oder deinen Kopfhörern belästigt zu werden. Du wirst mit dem Hier und Jetzt konfrontiert. Hier ist sie, deine unmittelbare Welt. In ihr passiert nicht ständig etwas Neues, sie ist kein Blogroll, der unablässig neue Informationen für dich bereithält, wenn du mit dem Daumen nach unten ziehst und wieder loslässt. Wir haben verlernt damit klarzukommen und werden panisch, wenn wir mal ein paar Minuten ganz mit uns selbst allein sind. Die gute Nachricht ist, dass wir auch wieder lernen können zu warten. Einfach mal ein paar Minuten ganz ohne Smartphone und ständige Selbstbeschäftigung. Dann bleibt man auch viel entspannter, wenn die Technik mal wieder streikt oder die Arzthelferin einfach vergessen hat, dass du noch da bist.

Diese Kolumne ist erschienen in The Bugle, official Newspaper of Lost&Distorted.
Foto von timomarcel.


2 Kommentare zu „Warte mal

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