Mensch, du Fliege!

Die Fliege summt ins Schlafzimmer und ich schließe genervt die Augen und senke das Flow Ferienbuch, das mich trotz des nassen Augusts in ruhige Sommerstimmung versetzt hat. Zumindest für wenige Minuten. Sie summt im Sturzflug knapp über meinem Kopf vorbei und gibt eine Spirale über meinem Wasserglas zum Besten. Dann schwirrt sie in die Nachttischlampe und das Summen bekommt einen zusätzlichen Hall-Effekt, stoppt dann kurz und setzt wieder ein, während die Fliege mit rieselndem Staub im Schlepptau wieder herausgetaumelt kommt.

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„Herr Timo!“, rufe ich. „Da ist eine Fliege!“ Herr Timo ist wenig daran interessiert. Er steht am Waschbecken und putzt seine Zähne. Nun ist das so, dass ich eine Fliege durchaus selbst erledigen könnte. Der Möglichkeit halber. Aber ich bin ein Mensch, der sämtliche Insekten (außer Blutsauger) vorsichtig einfängt und draußen wieder freilässt. Eine Fliegenklatsche haben wir nicht, sondern nur einen Insektenfänger, den mir meine Eltern in weiser Voraussicht geschenkt haben, als ich von Zuhause ausgezogen bin, damit das Kind alleine klarkommt. Wer aber schon einmal versucht hat, eine Fliege nicht zu erschlagen, sondern zu fangen, der weiß, dass das ganz schön schwierig ist. Der Herr Timo allerdings ist in dieser Technik äußerst bewandert und schafft es oft problemlos, eine Fliege im Flug zu fangen und dann vorsichtig nach draußen zu bringen.

Ich hätte ja auch gar nichts gegen eine Fliege, die lieb und nett an der Wand sitzt und mich nett grüßt, wenn ich ins Schlafzimmer komme. Aber ich ertrage kein Summen und Brummen. Insbesondere nicht nachts.

„Herr Timo!“ Ich stehe auf und öffne die angelehnte Badezimmertür. „Da ist eine Fliiiehge im Schlafzimmer. Und sie ist verrückt. Sie fliegt ohne Sinn und Verstand und in meine Lampe!“ Herr Timo ist leider wenig davon beeindruckt. Da summt es hinter mir und ich ducke mich. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie die verrückte Fliege über mir ins Badezimmer schwirrt.

„Danke! Du kannst sie ja jetzt einfangen!“, rufe ich als ich die Tür schnell zumache und mich wieder auf den Weg ins Schlafzimmer mache. Ich höre undefinierbare Geräusche im Bad, die Tür wird einen winzigen Spalt geöffnet: „Wie stellst du dir das bitte vor? Fang’ die Fliege? Sie sitzt an der Decke!“ (*Anmerkung der Autorin: Wir leben in einer Altbauwohnung mit 3,30m hohen Decken. Da hat selbst der große Herr Timo auf einem Stuhl nur begrenzte Chancen eine verrückte Fliege zu fangen.) „Ja, dann mach halt die Tür zu und wir fangen sie morgen!“, rufe ich schon unter der Bettdecke.

Natürlich vergessen wir am nächsten Tag, dass die Fliege im Bad ihr eigenes WG-Zimmer bekommen hat und ich erinnere mich erst wieder daran als sie uns beim Frühstück im Wohnzimmer Gesellschaft leistet. Irgendwie gehört sie jetzt auch dazu. Ich beobachte noch kritisch, ob sie auch ja nicht auf mein Brötchen fliegt, dann funktioniert unser Zusammenleben eigentlich ganz gut. Als ich mit später in der Küche einen Tee mache, kommt sie auch und begrüßt mich mit ihrem Summen. Dann besucht sie mich schließlich im Arbeitszimmer und meint: „Für heute reicht’s doch mal.“

Ich denke, man Fliege, schön, dass wir uns so aneinander gewöhnt haben. Wir kommen doch ganz gut aus miteinander. Flieg halt bitte nicht so ans Licht. Das ist nicht gut für dich.

Da sitzt sie am Fenster und ich finde, dass sie ganz schön müde aussieht. Hat sie überhaupt was gegessen oder getrunken? Fühlt sie sich hier wirklich noch so wohl?

Fliege Aquarell Wasserfarbe Illustration

Ich öffne einen neuen Tab. Stubenfliegen werden bis zu 28 Tage alt. Da schafft man selbst im Februar nur gerade so einen ganzen Monat. So gesehen, lebt die Fliege verglichen mit ihrer Lebenszeit schon viel länger mit uns zusammen als wir mit ihr. Sie muss unbedingt noch mehr sehen von der Welt, denke ich. Wer weiß, wie viele Tage sie schon alt ist. Hat sie überhaupt einen Geburtstag? Ich öffne das Fenster. Es regnet. Es ist kalt. Soll sie nur selbst entscheiden, was sie möchte. Wer was erleben will, muss raus aus der Comfort Zone.

Ich höre sie nicht mehr. Vielleicht ist sie nach draußen geflogen, vielleicht aber auch nur ins Wohnzimmer und schaut dort aus dem Fenster. Und denkt über ihr Leben nach.

Grönlandhai Auarell Wasserfarbe Illustration

Grönlandhaie können bis zu 400 Jahre alt werden und sind somit die ältesten, uns bekannten, Wirbeltiere der Erde. Im Vergleich zu ihnen ist unser Leben ruckzuck vorbei und trotzdem haben wir manchmal Langeweile und wissen nichts mit unserer Zeit anzufangen. Mensch, du Fliege, denke ich und hoffe, wir machen beide noch was Schönes draus aus diesem verregneten Tag.

Fliegenkumpel


 

2 Kommentare zu „Mensch, du Fliege!

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